Jugend ohne Gott

Ich bin kein Satiriker, meine Herrschaften, ich habe kein anderes Ziel, als wie dies: Demaskierung des Bewußtseins. Keine Demaskierung eines Menschen, einer Stadt – das wäre ja furchtbar billig! (…)
Diese Demaskierung betreibe ich aus zwei Gründen: erstens, weil sie mir Spaß macht – zweitens, weil infolge meiner Erkenntnisse über das Wesen des Theaters, über seine Aufgabe und zu guter Letzt Aufgabe jeder Kunst ist folgendes – (und das dürfte sich nun schon allmählich herumgesprochen haben) – die Leute gehen ins Theater, um sich zu unterhalten, um sich zu erheben, um eventuell weinen zu können, oder um irgendetwas zu erfahren. Es gibt also Unterhaltungstheater, ästhetisches Theater und pädagogisches Theater. Alle zusammen haben eines gemeinsam: sie nehmen dem Menschen in einer derartigen Masse das Phantasieren ab, wie kaum eine andere Kunst – Das Theater phantasiert also für den Zuschauer und gleichzeitig lässt es ihn auch die Produkte dieser Phantasie erleben. Die Phantasie ist bekanntlich ein Ventil für Wünsche – bei näherer Betrachtung werden es wohl asoziale Triebe sein, noch dazu meist höchst primitive. Im Theater findet der Besucher zugleich das Ventil wie auch Befriedigung (durch das Erlebnis) seiner asozialen Triebe.

Ödön vonHorváth

DIE GERICHTSBARKEIT DER BÜHNE FÄNGT AN, WO DAS GEBEIT DER WELTLICHEN GESETZE SICH ENDIGT.

Jugend ohne Gott heute

Die aktuelle Jugend ist immer die Schlimmste! Ein Titel, der wie ein Wanderpokal von den Erwachsenen an die jeweils junge Generation weitergereicht wid. Nicht nur nach Katastrophen, wie Amokläufen, wird von der Öffentlichkeit – fast ausschließlich Erwachsener – gerne das Bild einer verkommenen und verrohten Jugend bemüht. Eine Jugend ohne Gott, die – heute! – nur noch den Götzen des Amüsements und der Kulturindustrie huldigen und von ihnen verdorben würde, meist in Form von Gewalt verherrlichenden Videos und so genannten Killerspielen.

Auch Horváth richtet den Vorwurf bereits im Titel seines Romans Jugend ohne Gott an die nachwachsende Generation. Allein, er entlastet nicht die Erwachsenen. In der Figur des Lehrers klafft ein tiefer Graben zwischen Anspruch und Geltung von Idealen in der Alltäglichkeit. „Danke Gott, dass ich zum Lehrkörper eines städtischen Gymnasiums gehöre und dass ich also ohne wirtschaftliche Sorgen alt und blöd werden darf!“ Derselbe Lehrer wirft der Jugend aber auch vor: „Ihr lest nur, um spötteln zu können. Ihr lebt in einem Paradies der Dummheit, und euer Ideal ist der Hohn.“ Diese Haltung der Erwachsenenwelt erfindet und verkauft so genannte Killerspiele, wünscht sich aber zeitgleich empört das Verbot; ein erwachsener Zynismus, an dem sich „die“ Jugend abarbeitet und in Einzelfällen brutal scheitert.

In der Bielefelder Bühnenfassung von Horváths Roman Jugend ohne Gott warten die vier Personen Eva, Z, T und der Lehrer in einem Raum auf den Beginn des Gerichtsprozesses im Mordfall an ihrem Mitschüler N. Die Enge des Raumes liefert sie einander aus, wie Kämpfer in einer Arena. Sie verhandeln die Ereignisse, die zum Mord an ihrem Mitschüler führten. Wer ist Täter, wer hat Schuld? Und, viel wichtiger: Ist das eigentlich dasselbe? Verstrickt sind sie alle in den Mordfall, allerdings auf sehr unterschiedliche Weise. Die Handlung entspinnt sich um zentrale Konflikte der Jugend. Stärken und Schwächen von Gefühlen, Macht und Ohnmacht von Idealen, die Glaubwürdigkeit des eigenen Handelns und das der Erwachsenen. Urmenschliche Themen, die, geraten sie in einen katastrophalen Konflikt mit der Umwelt, nicht mit einem Allgemeinplatz, wie: „Die Jugend ist verdorben“, erklärt werden können. Sätze dieser Art sind bequeme, entlastende Phrasen. Im Gegenteil sagt das Ressentiment wider die Jugend viel mehr über die Erwachsenenwelt aus. So gesehen ist die Phrase: „Schlimmste Jugend aller Zeiten“ bloß ein abgegriffener, blöder Wanderpokal, den erhält, wer alt genug ist, ihn zu heben.

Bernhard Krebs

WIE DAS BÖSE NACH TESSIN KAM

Felix. Der intelligente Junge, der erfolgreiche Gymnasiast, der wohlerzogene Sohn, der jedermann höflich grüßte. Er war keiner von jenen Tunichtguten, die ihren Eltern schlaflose Nächte bereiten. Deshalb hatten die D.s es auch nicht für nötig gehalten, zu kontrollieren, ob er in der Nacht des 13. Januar im Bett lag, als sie gegen halb elf Uhr heimgekommen waren. Nie hatte die Polizei Felix irgendwo aufgreifen und nachts nach Hause bringen müssen, nie war er laut oder hinter Mädchen her gewesen, nie hatte er gepöbelt oder sich geprügelt. Er trank nicht, er klaute nicht, ging selten auf Partys. Rauschgift, Motorradgangs oder andere jugendliche Verirrungen, mit denen viele Eltern über die Jahre zu kämpfen haben, bleiben den D.s erspart. Ihr Felix war anders, verlässlich, vernünftig, verantwortungsvoll. Ein guter Bursche, ein zuversichtlicher Ausblick in die Zukunft. Jedenfalls bis zum 13. Januar 2007 – da nämlich lagen gegen 22 Uhr zwei blutüberströmte Leichen im Backsteinhaus Dorfstrasse 22. Niedergemetzelt mit Küchenmessern. Von Felix, dem Musterknaben.

Tessin, ein Dorf an der mecklenburgischen Straßenkreuzung in der Nähe von Boizenburg, hat vielleicht zweihundert Einwohner […] Es gibt einen hübschen Weiher und ein paar Schritte weiter eine Bushaltestelle, wo sich mangels Alternative die Dorfkinder versammeln. […] Hier ist das Leben kein munter springender Bach, sondern ein stehendes Gewässer. Tessin – ein Ort für Maler im Ruhstand, für Ornithologen, die ausgestorbenen Wasservögeln nachspüren. […] In jedem Fall ein Ort, an dem man sein Dasein beschließt. Hier sollte sich nicht niederlassen, wer noch Erwartungen ans Leben hat. […]

Erst am Tag nach der polizeilichen Hausdurchsuchung fanden die Eltern das Tagebuch ihres Sohnes in seinem Zimmer. Alles hatte offen im Regal und im Schreibtisch gelegen. […] Bei der Lektüre dieser Aufzeichnungen aus den vergangenen zwei Jahren nahm sie plötzlich Gestalt an, die fremde, abgründige Person, die in Felix wohnte und von der sie nichts gewusst hatten […] Das Tagebuch ist ein Dokument der Qual. Hier fragt einer nach einem Sinn seiner Existenz und hört doch nur das eigene Echo. Hier sehnt sich einer nach Liebe und körperlicher Nähe und bleibt doch unter den eigenen Hemmungen, dem Selbsthass verschüttet wie ein Bergmann im Stollen. Mitten in seiner Familie lebend, atmend, essend, schlafend, redend, fühlte Felix sich von einer Todeszone umgeben, die niemand bemerkte, niemand durchdrang […]

Während er seine destruktiven Regungen sorgsam vor den Erwachsenen verborgen gehalten hatte, war Felix seiner jüngeren Schwester Jana im vergangenem Sommer mit seinen Weltvernichtungsfantasien mächtig auf den Geist gegangen. […] Schon vor zwei Jahren hatte der in sich gekehrte Felix, der in seiner Klasse als Einzelgänger galt, sich die Auslöschung der Schulkameraden ausgemalt. Auch davon hatte die damals 13-jährige Jana gewusst und es aufgrund vermeintlicher Bedeutungslosigkeit wieder vergessen. Auf der Klassenfahrt hätte es geschehen sollen. Felix wollte das Segelschiff, mit dem die damalige 9 d vor der niederländischen Küste kreuzte, in seine Gewalt bringen und alle an Bord ermorden – bis auf ein paar hübsche Mädchen, die zum Lustgewinn des Entführers noch eine Weile am Leben bleiben sollten. Auch dieses Vorhaben hat Felix schriftlich fixiert – unter einer Überschrift in fehlerhaftem Latein: Opus Magnus.

Jetzt wo alles raus ist, kommt der Mutter im Nachhinein manches irritierend vor, was ihr Sohn am Rande fallen ließ. So erinnert sie sich noch daran, dass Felix, von besagtem Segeltörn zurückkehrend, äußerte „Das ist ja gerade noch mal gut gegangen“. Es habe sie kurz stutzen lassen, sagt sie, aber nachgefragt hat sie nicht. […]
Einmal im Leben stark und bedeutend sein, das war der innigste Wunsch dieses Elftklässlers. Einmal im Leben ein unsterbliches Werk, ein Opus magnum vollbringen. Einmal im Leben über das eigene, kleine Ich hinauswachsen – und sei es im Bösen. […]

Ähnlich muss es im antiken Antihelden Herostrat ausgesehen haben, der eins der sieben Weltwunder, den Artemis Tempel von Ephesos, in Flammen aufgehen ließ, um von der Welt nicht vergessen zu werden. Der Frevel hatte seine Ursache im Ohnmachtsgefühl des Brandstifters, der damit gegen die eigene Endlichkeit und Dürftigkeit aufbegehrte. Niemand außer dem Täter kann den Sinn einer solchen Tat erkennen, ob sie 356 vor Christus in Ephesos begangen wird oder 2007 nach Christus in Tessin. Das Verbrechen des Felix D. war eine herostratische Tat, und die unzähligen Messerstiche halten im Grunde nicht dem Ehepaar §., sondern der tief im eigenen Herzen wohnenden Überzeugung ein Nichts zu sein. […]
Jetzt schreibt Felix seinem Vater lange Briefe aus dem Gefängnis. Er schreibt, wie lieb er die Familie hat. […] Um den Hals trägt er seit Kurzem ein Kreuz, denn durch die Gespräche mit dem Anstaltsgeistlichen ist er zum Christen geworden. Wenn man ihm sagt, er dürfe sich im Laden etwas kaufen, winkt der Untersuchungshäftling D. ab und teilt den Beamten mit, er sei an irdischen Gütern nicht mehr interessiert.

Felix hat sich auf eine lange Jugendstrafe eingerichtet. Er hadert nicht mit dem Schicksal, im Gegenteil: Aus seinen Briefen spricht Demut, fast Zufriedenheit. Da sitzt einer in seiner Zelle wie der Eremit in seiner Klause. Vier Wände drum herum, Gitter, Stacheldraht. Felix muss den Planeten nicht mehr zerstören, und er muss ihn nicht mehr retten. Eine schwere Last ist von seinen Schultern genommen. Die Möglichkeiten sind plötzlich sehr begrenzt.
Sein Opus magnum liegt hinter ihm. Felix hat die Erfahrung gemacht, äußerste Macht auszuüben, er hat Menschen das Leben genommen. Und diese Erfahrung ist nichts wert. Einfach nur nichts.

SABINE RÜCKERT