Schillern

Fear and Loathing in Meiningen / Die Regisseurin Marlin de Haan rockt mit „Schillern“ gegen den Dilettantismus

Pressemitteilung von: Alexander Spiel, freier Journalist, Berlin

Ich muß unbedingt von einer Theater-Entdeckung berichten, die ich tief in Thüringen gemacht habe. Genauer gesagt in Meiningen, einem Ort, den ein paar Leute kennen, weil dort ein Großherzog vor 100 Jahren ein Theater gegründet hat, das seinerzeit weltberühmt war. Weil ich zu diesen paar Leuten gehöre und zufällig in der Nähe war, wollte ich mir mal ansehen, was dort noch davon da ist.

Ich stellte fest: In der Hauptsache eine Menge fetter Prachtbauten, die heute offensichtlich nicht mehr gebraucht werden, und ein Stadttheater mit Säulen vorne dran, in das sich Rentnerbusse zur Don-Carlos-Aufführung leeren. Wegen der Überzahl der ins Theater strömenden älteren Herrschaften bin ich jedenfalls lieber an diesem vorbei in die Innenstadt zum leeren Marktplatz mit Kirche gegangen, habe dort was gegessen und machte mich schwer schwitzend (denn es war der drückend warme 24. Juni) auf den Rückweg zu meinem Auto. Dabei fiel mir zwei Häuser vor dem Stadttheater ein Eingang auf, vor dem roter Filz ausgelegt war. Die Türen standen offen, ich ging hinein – und landete so vollkommen zufällig beim „Junge Hunde-Festival“ in einem dieser alten Protzbauten. Hier herrschte plötzlich Berliner Atmosphäre: Stuck, DDR-Tapete, Verfall und in jedem Raum junge Kunst, dabei ganz nette Sachen, wie ich bei kurzem Hineinblicken zu sehen meinte. Zeichnungen, Video, eine Bar, Aktionen, zu denen man sich irgendwie anmelden mußte. Aber das Seltsame war: Ich war offenbar der einzige Gast. Oder sagen wir: ungefähr einer unter vieren. Ziemlich deutlich erkannte man, daß niemanden in Meiningen Berliner Flair reizt. Und unter diesen Umständen verlor ich auch schnell die Lust und wollte wieder gehen. Aber da sprachen mich zwei Kostümierte an – ein Langer in weißen Kniestrümpfen und hochgekrempelter Hose und ein anderer mit Sonnenbrille und türkisem Goethe-Jackett. Ob ich nicht „Schillern“ sehen will, das fängt gleich an. Aus Mitleid bin ich mitgegangen und kam so an diesem Abend zu einem seltenen Theatererlebnis. Nämlich: Gutes Theater.

Die Regisseurin Marlin de Haan hat ein von Axel von Ernst aus (wie das Programmheft garantiert) „100 % Klassiker-Texten“ zusammenmontiertes Drama auf der Grundlage von Schillers und Goethes Fragmenten zum Thema Dilettantismus mit soviel Intelligenz und Witz und so guten jungen Schauspielern inszeniert, daß ich die Qual des Schwitzens in diesem kleinen mit Stuck überladenen Raum beinahe vollständig vergaß. Gergana Muskalla stellte beindruckend klar und cool und in stillen Momenten berührend eine Schauspielerin dar, Robert Christott mit Verve und köstlicher Überheblichkeit einen Dichter und Fabian Sattler, den dritten Künstler im Bunde („Maler“), sehr nuancenreich, witzig und ein bißchen an Johnny Depp in „Fear and Loathing in Las Vegas“ erinnernd. Nur wenig zu Wort kam der Musiker (Jim Campbell), der dafür den konsequenten, unaufgeregten Drogenexzeß und die auf- und abbrausenden Diskussionen der anderen mit schräger Musik untermalte. Wer sind diese Leute? Marlin de Haan hat schon was in Bochum inszeniert, der Autor ist, wie ich im Internet gefunden habe, beim Verlag Hartmann & Stauffacher, das Programmheft bedankt sich beim Schauspielhaus Bochum „für die Unterstützung“. So eine Art Gastspiel aus gutem Hause im Westen also (was die Rundheit und Qualität der Sache begründen würde.) Und was passierte hier eigentlich? Im Grunde nichts weiter als eine aufgeputschte Diskussion über das Schlechte in der Kunst (Ich wußte gar nicht, daß Goethe und Schiller so gut darüber gemeckert haben), wobei unklar bleibt, wie sehr die Diskutierenden, die schließlich nach Einnahme eines brodelnden „Punsches“ völlig in ihrem Haß auf den Dilettantismus und der Huldigung ihrer Künste abdrehen, selber dilettantisch sind. Ein toller, verrückter und kluger Abend. Im Programmheft steht, daß Goethe überlegt hat, aus den Notizen über den Dilettantismus eine „poetische“ Arbeit zu machen, damit sie weitere Verbreitung finden kann. Mit „Schillern“ könnte er zufrieden sein, so brillant und modern habe ich klassische, „tiefe“ Gedanken lange nicht vermittelt bekommen. Leider muß man befürchten, daß „Schillern“ nur von den wenigen Leuten im wilden Südthüringen gesehen werden konnte. Ich würde alle meine Freunde hinschicken, wenn es noch einmal woanders gespielt werden würde. Zum Glück hat mich der Zufall Marlin de Haans „Schillern“ bereits entdecken lassen – und lauter Namen, auf die ich in Zukunft weiter achten werde.