Jugend ohne Gott

Was einer sagt, so ist er
Bielefelder Theater bringt Horvaths Roman „Jugend ohne Gott“ auf die Bühne.
VON MANFRED STRECKER, Neue Westfälische, 24. Sept. 2007

Bielefeld. Ein Mord ist geschehen, die Silhouette eines Körpers zeichnet sich am Boden ab, wo die Leiche aufgefunden wurde. Ein Pflasterstein, die Tatwaffe, liegt in dem Körperumriss an der Stelle, wo er das Opfer traf, am Kopf. „Um was geht es hier?“ Die Frage wird man in dieser Theaterstunde noch öfter hören.

Es geht um die Bielefelder Theatralisierung von „Jugend ohne Gott“, ein an Schulen viel gelesener Roman von Ödön von Horvath, für die Bühne in diesen Wochen in eigenen Fassungen auch in Essen und Stuttgart eingerichtet. In einem Amsterdamer Verlag für Exilliteratur ist das Buch 1937 erschienen, der österreichisch-ungarische Autor und Stückeschreiber erzählt eine Geschichte aus dem Schulleben des „Dritten Reichs“. Ein Lehrer mit bürgerlichem Anstand steht einer verhetzten, Hitler-gläubigen Klasse Jugendlicher gegenüber.

Doch Regisseurin Marlin de Haan, die ihre Fassung nach Dialogelementen des Romas wortgetreu arrangiert, spielt die Geschichte in der Studiobühne des Theaters am Alten Markt, TAM-zwei, mehr ins Allgemeine hinüber. Um was geht es hier? Um Schuld, Verstrickung durch Unterlassung, um Liebe und Bespitzelung und eigentlich nebenbei – Horvath hatte zu der Zeit, als er den Roman schrieb, längst eine metaphysisch-religiöse Wende genommen – um die Zwiespältigkeit des Wissen-Wollens, um was es geht. Wie einer stirbt, das schließlich hatte der jugendliche Täter wissen und sehen wollen.

Bühnenbildner Jürgen Höth hat für den quadratischen Raum des TAM-zwei eine neue ingeniöse Lösung gefunden, die die Neugier des Publikums spiegelt und die gewohnte Intimität der Situation nicht aufhebt; der Zuschauer kann dem Schauspieler, der Schauspielerin, wie es an diesem Abend tatsächlich dem einen oder anderen widerfährt, die Hände schütteln. Das Publikum schaut durch einen Rahmen auf das Geschehen wie durch einen Einwegspiegel in einen Verhörraum. Dort beobachten sie die vier Figuren, auf die de Haan das Romanpersonal reduziert, vor der anstehenden Gerichtsverhandlung; wie es bis dahin kam, wird in Rückblenden entwickelt.

Kaum zu beurteilen, wenn man den Stoff kennt, ob sich dem uninformierten Zuschauer der Hergang in seiner Abfolge wirklich erschließt. Beeindruckt, vielleicht sogar offenkundig begeistert wie das Premierenpublikum, dürfte er dennoch sein. De Haan entfaltet die Geschichte in einer strengen Choreografie bruchloser Übergänge und schnell wechselnder Szenen, in Stilisierungen, ja geradezu im Marionettenhaften eines Puppen-Balletts, was Horvaths dramaturgischem Prinzip – ein Mensch entblößt sich in seiner Borniertheit in dem, was er sagt – bestens veranschaulicht.

Wir erleben junge Schauspieler – Pascal Fligg und Luisa Stachowiak von der Folkwangschule Essen, mit der das Bielefelder Theater vor allem für Jugendstücke wie im TAMzwei zusammenarbeitet, und Maximilian Strestik, schon einmal zu Gast an der Bühne. Antony Connor, vom Alter, wie es Horvath vorsieht, gerade einmal eine Generation älter, spielt den Lehrer.

Alle vollbringen das Kunststück rascher, unvermittelter Wandlung in Ausdruck und, wenn die Rollen sich verschieben, im Charakter. Sie bringen so einen steten, stets überraschenden, für kurze Augenblicke Gestalt annehmenden und immer wieder umlenkenden Fluss des Geschehens hervor.

Eine tolle Premiere.