Die sieben Tage des Simon Labrosse

Ekelwelt

von Annette Kiehl

BOCHUM – Die Zeiten sind schlecht, aber Simon Labrosse ist bestens gelaunt. Er ist Stuntman mit Spezialgebiet Gefühlsstunt. Einen Tag später ist er persönlicher Zuschauern. Dann wird er Satzbeender von Beruf, am Tag darauf bietet er sich als Ego-Schmeichler an, und zum Ende der Woche denkt er stellvertretend für andere Leute an schlimme Sachen. Ach ja, und Liebhaber auf Distanz ist er auch. Simon Labrosse ist der perfekte Arbeitslose. Jeden Tag erfindet er sich neu, keine Absage an seine Talente und experimentellen Dienstleistungen lässt ihn an sich zweifeln. Eine Woche seines Lebens – wohl ein Hinweis auf die Schöpfungsgeschichte – präsentiert er in einer Inszenierung des Prinz Regent Theaters in der Bochumer Verwaltungsakademie: „Die sieben Tage des Simon Labrosse“.
Bei dieser Vorführung , einer Komödie der kanadischen Autorin Carole Fréchette, stehen ihm Natalie und Léo zur Seite. Natalie spielt „die nicht so interessanten Frauenrollen, die aber Tiefe haben“, erklärt sie zu Beginn vom Rednerpult der Akademie-Aula. Diese bietet ihrem 50er-Jahre-Charme überhaupt einen wunderbar muffigen Rahmen für das Dreier-Stück. So scheint auch Léo (Helge Fedder) ein Fossil aus einer lange vergangenen Zeit zu sein. Der Dichter („Ich hasse alles und jeden“) trägt eine riesige Brille und einen beigen Pullunder, geht immer etwas geduckt und schreibt scheußliche Gedichte an die Wand. Ein Riss im Gehirn hat die schlechte Laune in sein Denken eingebrannt.
Marlin de Haan, eine junge Regisseurin, die bereits am Bochumer Schauspielhaus gearbeitet hat, hat diese kuriose Dreier-Konstellation mit leichter Hand und dabei ganz und gar nicht oberflächlich inszeniert: man lacht über Simons zuweilen gar nicht mal schlechte Service-Ideen – wie zum Beispiel die, für andere Leute schwierige Gespräche mit den Eltern zu führen. Und man grinst über die immer wieder entlarvende Realitätsnähe der kurzen Szenen und Begegnungen. Etwa, wenn eine der Frauenfiguren (Vera Kasimir) Simons Angebet, den Sinn des Lebens zu finden, mit den Worten ablehnt, dass das doch ein bisschen stressig wäre. Und dann horcht man auf, weil immer stärker durchscheint, dass Simon nicht alles Unglück mit seinem Erfindergeist zudecken kann: Da droht der Vermieter an der Tür, da erfährt man, dass die Geliebte, für die Simon (Jean-Luc Bubert) Tag um Tag hingebungsvoll Kassetten mit seinen Erlebnissen bespricht, mehr Wunschvorstellung als Wirklichkeit ist.
Den drei Darstellern gelingt der Balance-Akt zwischen Komik und Tragik, Enthusiasmus und stillem Zweifeln, Tiefe und Nonsens wunderbar. Ihre schrulligen Kostüme sind Nebensache, vielmehr geben sie den Figuren mit kleinen Gesten Gewicht: Simons suchenden Blicken, den stampfenden Schritten von Natalie oder in den Momenten, wenn sich der beleidigte Léo immer etwas zu nah ans Mikrophon beugt, um einmal mehr eine Ansage zu machen.
Die allerschönste Stelle gelingt gerade dem notorischen Miesmacher mit einem seiner schrecklichen Gedichte. „Gibt es noch Hoffnung für diese Welt? Nein, Nein, Nein“, stellt er mit einer liebenswerten Vehemenz fest, um dann zu schließen: „Ziegelsteine regnen auf die Ekelwelt!“

Westfälischer Anzeiger
15.02.2006

Die Apokalypse des Simon Labrosse

Arbeitslos und kreativ: Der junge Held bietet Dienste als „Superversteher“ und „Gefühlsstuntman“ an.
Prinz-Regent -Theater gastiert mit schräg-nachdenklicher Komödie in der leer stehenden Verwaltungsakademie

von Jenny Meyer

Die junge Regisseurin Marlin de Haan scharte mit dem Projekt „Prinz-Regent-Theater vor Ort“ illustre Künstler um sich und setzte das Forum der Verwaltungsakademie an der Wittener Straße mit der Sonne von Capri und den dunklen Schatten des Wirtschaftswunderlandes Deutschland in ein bewegtes Licht.
Carole Rechéttes Stück „Die sieben Tage im Leben von Simon Labrosse“ beginnt verheißungsvoll wie eine Schöpfungsgeschichte und endet in einer persönlichen Apokalypse. Simon Labrosse (gnadenlos optimistisch: Jean-Luc Bubert), erwerbs- und mittellos, nutzt das Auditorium der VWA, um seine Biographie spielerisch an den Mann zu bringen. „Das ist mein Leben, meine Probleme werden sie trösten“, verspricht Simon dem noch etwas zaghaften Publikum.
Die angestaubte Patina des Gebäudes bietet eine fast schon ironische Kulisse. Simon sucht sich zwei Helfer, die seine Geschäftsidee verwirklichen sollen. Labrosse ist ein kreativer Supermann. Mal ist er „Gefühlsstuntman“ und bietet als bezahlter Stellvertreter aufgebrachten Familienkriegern die Stirn, dann der professionelle Paparazzi, der das Ego aufpoliert. Er ist „Der Superversteher“ und „Satzbeender“, verdingt sich als „Schmeichler“ und Füller der persönlichen Leere“. Doch lukrativ ist das Ideenfeuer nicht, niemand zahlt und Simon ist pleite.
Nathalie (Vera Kasimir überzeugt mit ihrem reizenden Charme) ist Simons Schwarm und hat eine andere Mission: Sie trägt ihr selbsterfahrenes Inneres als lukratives Videohappening nach außen. Simons Freund Leo (Helge Fedder), der verhinderte Dichter, kann nur negative Gedanken fassen. Der manische Lyriker schreibt die unschuldig weißen Wände voll düsterer Verse. Auch er verlässt am Ende Simon und die leere Bühne. So viel verzweifeltes Mühen kann auch er nicht mehr ertragen, und er glaubt sowieso nicht an den Berufsoptimisten.
Regisseurin Marlin de Haan erzählt Simons Geschichte leicht und schlicht ohne viel Tamtam. Sie gibt den Schauspielern Raum, die die leere Bühne durch ihr Spiel mit Simons Leben füllen. Der bröckelnde Putz und das angelaufene Messing begleiten melancholisch die tragisch-komischen Bemühungen des jungen Stehaufmännchens. Am Ende kauert Simon in der leeren Wohnung, der Strom ist abgestellt. Doch er steht auf und macht sich auf den Weg, um den Leuten die Zeit zu vertreiben, sie mit seinen Problemen zu trösten.
Die begeisterten Zuschauer feierten anschließend noch in der kultigen Mensa zu den Klängen der 50er Jahre eine nostalgische Party. Das Rahmenprogramm „Capri“, das vom Charme der 50er inspiriert ist, beginnt eine Stunde vor Aufführungsbeginn im Forum. Wieder am Sonntag um 19 Uhr. Die Vorstellung am heutigen Samstag entfällt.

Prinzip Hoffnung

Simon Labrosse ist arbeits-, doch nicht hoffnungslos. Mit allerlei kreativen Ideen versucht er, ins Erwerbsleben zurückzukehren. Sein letzter Ausweg: sein Leben als Unterhaltungsstück, inszeniert vom prinz regent theater in der vom Abriss bedrohten ehemaligen Wirtschafts- und Verwaltungsakademie an der Wittener Straße. Ein Profi-Abend mit Amateurtheatercharme.

Wenn einer nichts mehr hat, bleibt ihm noch sein Leben. Ich meine, er kann immer noch sein Leben erzählen. (…) Gestatten: Simon Labrosse, Leerefüller.
„Die Hoffnung stirbt zuletzt“, sagt eine Sprichwort, das wohl Pate gestanden hat für die verrückte, kleine Tragikkomödie, die derzeit die ehemalige Wirtschafts- und Verwaltungsakademie belebt. Ersonnen hat sie die kanadische Schriftstellerin Carole Fréchette. Die 1949 in Montreal geborene Autorin zählt in ihrer Heimat zu den bekanntesten Gegenwartsdramatikern, wird viel gespielt und erhielt für ihre Werke bereits zahlreiche Auszeichnungen. In Deutschland stand sie mit „Elisas Hut“ erstmals 2001 im Münchner Galerie Theater auf einem Spielplan.
„Die sieben Tage des Simon Labrosse“ kamen 2005 – erst acht Jahre nach ihrer Premiere – zur deutschsprachigen Erstaufführung und erobern seither bundesweit eine Bühne nach der anderen. Schließlich ist die Thematik angesichts ständig steigender Arbeitslosenzahlen brandaktuell.
Simon ist einer von „denen“. Kein Job, Freundin weg, Vermieter am Hals, Gerichtsvollzieher im Haus und zu guter Letzt verlassen ihn auch noch seine zwei verbliebenen Freunde. Nur die Hoffnung will nicht so ganz weichen, auch wenn sie immer kurz vorm Absprung ist.
Um an Geld zu kommen, will Simon seine Arbeitskraft auf dem Dienstleistungssektor anbieten. Ideen hat er genug, nur die Nachfrage lässt zu wünschen übrig. Vielleicht sind die Menschen, die sich wahrlich schon viel verkaufen lassen, noch nicht so weit, um ihre kleine Privatsphäre zu öffnen für „Gefühlsstuntmen“, „Satzbeender“, „persönliche Zuschauer“, „Egoschmeichler“ oder „Sorgenträger“. Simons Ideen sind so originell wie ihr Scheitern vorhersehbar, tragikomische Versuche im Wettlauf mit der Realität. Für „Spinner“ wie Labrosse hat die Gesellschaft weder Platz noch Verständnis, die doch selbst überdrehte Existenzen wie Simons negativen Dichterfreund Léo und die für die Aufführung angeheuerte Nathalie mit dem Selbstfindungsseminarfimmel wieder in ihre Mitte nehmen.
Simons letzte Hoffnung: Sein Leben als Theaterstück. Eine Idee, die anscheinend funktioniert. Denn bereits zur Premiere hatte sich eine ansehnliche Zahl an Voyeuren an der Wittener Straße eingefunden. Die junge Solinger Regisseurin Marlin Katharina de Haan, die von 2000 bis 2004 als Regie-Assistentin am Schauspielhaus Bochum war, hat die schräge Farce mit drei Schauspielern locker und unterhaltsam in Szene gesetzt. Dass der Inszenierung ein Hauch von Amateurtheater anhaftet ist gewollt, konsequent und charmant. Die Besetzung mit Jean-Luc Bubert als Simon, Vera Kasimir als Nathalie (plus alle weiblichen Rollen) und Helge Fedder, der grandios den dichtenden Negativisten (plus alle männlichen Nebenrollen) gibt, ist stark und spielfreudig. Nach gut einer Stunde bleibt einzig ein säuerlich-bitterer Nachgeschmack angesichts der aktuellen wirtschaftlichen Lage.
Marlin de Haan inszeniert jedoch nicht nur auf der Bühne, sondern empfängt den Zuschauer im Foyer der authentischen und eindrucksvollen 1950er Jahre-Architektur mit „Capri“. Unter der künstlerischen Leitung von de Haan, Lutz Kemper und Doro Schumacher sorgt Jim Campbell für einen extraweichen elektronischen Soundteppich, Kemper installiert phantaskopische Bilder, Jennifer Müske kocht und Dunix-Lichtbilder zeigen Familiäres aus der Wirtschaftswunderzeit – als Antipoden zum ökonomischen Desaster des Simon Labrosse.