Philotas

Gotthold Ephraim Lessing

Ich werde zum Gott werden, lächelnd im dichten Neben. Ich kann meinen Todestag kaum erwarten.
Gedicht eines gefallenen japanischen Soldaten aus dem 2. Weltkrieg

3135 Jahre Krieg

Es ist eine Jammer, dachte Holt, als er sich unlustig und frierend mit kaltem Wasser wusch und dabei in den Spiegel starrte; es ist ein großer Jammer: Wolzow und ich, wir würden die ganze Schule beherrschen, wenn wir Freunde wären, denn die älteren Jahrgänge sind beim Militär, wir sind die oberste Klasse.
Er trocknete sich ab. Er befühlte Wangen und Oberlippe: der Bart ließ sich Zeit, das war Holts Kummer. Er rasierte sich nur aus Prestigegründen. Mit sechzehneinhalb noch fast ohne Bart … eine Schande! (…)

Gilbert Wolzow war ein paar Monate über sechzehn Jahre alt. Sein Vater, der Oberst Wolzow, stand als Regimentskommandeur an der Ostfront. Wenn man Wolzows Erzählungen glauben durfte, so waren die Wolzows ein preußisches Offiziersgeschlecht, das seit zweihundert Jahren ausnahmslos Offiziere hervorgebracht hatte. Auch Gilbert wollte Offizier werden und er bereitete sich von Kind an darauf vor.
Er war der ungekrönte König der Klasse, ja der Schule, der die Cliquen und Schülergruppen mit Gewalt zusammenhielt und niemals, bis Holt in die Klasse eingetreten war, Widerspruch geduldet hatte. In allem, was mit Krieg, Kriegswesen, Kriegsgeschichte, mit Waffentechnik und Kriegsgerät zu tun hatte, war er ein Phänomen.
Wolzow stand neben seiner Bank und erklärte: „Geschichte, das ist Krieg. von 1469 vor bis 1930 nach Christi Geburt hat es nur zweihundertvierundsechzig Jahre Frieden, aber dreitausendeinhundertfünfunddreißig Jahre Krieg gegeben.“ (…)

Wolzow blinzelte faul in die Sonne. „Der Krieg geht ja erst richtig los“, sagte er. „Ich habe keine Angst mehr, daß wir zu spät kommen. Weißt du schon, daß die Amerikaner auf Sizilien gelandet sind?“ Holt war überrascht. „Nein … Ich hab ewig keinen Wehrmachtsbericht gehört.“ – „Jedenfalls ist das ein Fortschritt“, behauptet Wolzow. „Wie willst du den Gegner schlagen ,wenn er sich nicht zum Kampf stellt? Wenn ich Feldherr wäre, ich würde Entscheidungsschlachten suchen, wenn es die Lage nur einigermaßen erlaubt. Weißt du, wer mein Ideal ist? Ich hab neulich von Marius gelesen. Mensch, das war ein Kerl!“ Er richtete sich auf. „Wir können uns, glaub ich, ab August freiwillig melden. Kommst du mit zu den Schnellen Truppen? Panzer sind die tollste Waffe.“ – „Ich komm mit“, sagte Holt. „Panzer ist gut. Ich stell mir das herrlich vor, wenn man ins Feuer reinbraust, und ringsum trommeln die Granaten, und dann das Duell Panzer gegen Panzer … Du hast recht! Es gibt kein Abenteuer, nur den Krieg. Früher gab´s Seeräuber, Banditen wie Karl Moor, die für Gerechtigkeit ihr Leben gaben.“

Eine Stunde lang lagen sie in der Sonne. „Das schönste ist natürlich Truppenführung“, begann Wolzow von neuem. “ Da stehst du am Kartentisch, die Mütze auf dem Kopf und klopfst ganz lässig mit dem Rotstift auf die Karte. Hier … ein Stoß wird so angesetzt, und einer so … Dann gibst du Befehle. Dein Wort entscheidet die Schlacht.“ (…)

Holt rauchte und sah sich die Bücher an, die herumlagen, kriegswissenschaftliche und geschichtliche Werke, Verdy du Vernois: Studien über Truppenführung, Rüstow: Geschichte der Infanterie, Prinz Kraft zu Hohenlohe: Militärische Briefe über Artillerie, und nun sah Holt auch das dicke Taschenbuch liegen. Er nahm den flexiblen Lederband zur Hand und studierte den Titel: „Lutz von Wulfingen, Generalleutnant und Lehrer an der Königlich Preußischen Kriegsakademie, Taschenbuch der Kriegsgeschichte in Stichworten mit strategischen und taktischen Anmerkungen und einem chronologischen Verzeichnis aller Schlachten, Gefechte und Scharmützel der Weltgeschichte samt der daran beteiligten Truppen und ihrer Führer, mit 212 Skizzen versehen und völig neu bearbeitet von Otto Graf Ottern zu Ottbach, Major a. D., zweite Auflage 1911.“

Er legte das Buch aus der Hand. Was er jetzt unter dem Wust hervorzog, war Goethes Faust. „Liest du den Faust?“ fragte er erstaunt. Wolzow antwortete: „Ich hab gehört, da soll ein Soldat mitspielen, ich hab mir das angesehen: militärisch ist es uninteressant.“
Dieter Noll, Die Abenteuer des Werner Holt

DER SCHLÄFER IM TAL

Ein grünes Fleckchen ist´s, dort trällert schön
Der Bach, hängt Silberfetzen irr und dicht
Den Gräsern um, der Sonne Glanz aus Felsenhöhn
Herdringt. Ein Tal ist´s, klein und schäumt im Licht.

Ein Soldat, ganz jung, mit offnem Mund und nicht bedeckt
das Haupt, den Nacken badend kühl im Kresseblau,
Schläft da, im Gras, vorm Himmel ausgestreckt,
Blaß, im grünen Bett, im Lichtertau.

Schläft, seinen Fuß im Lilienfeld. Er lächelt leise
Im Traum nach eines kranken Kindes Weise,
Ihn friert! O wieg ihn wärmend ein, Natur!

Vom Dufthauch zittert nicht der Nase Rand,
Er schläft im Sonnenschein, auf seiner Brust die Hand,
Ganz still. Hat rechts von zwei Flecken rot die dunkle Spur.

Arthur Rimbaud

WIE IN EINEM FIEBER

Ach ja, man müßte lügen, wenn man sagen wollte, daß man die großen Schlachten noch mit Freuden erwartet. Das war früher vielleicht einmal, als es gar nicht schnell genug drauf und dran gehen konnte und die Lust am Kampf wie die Sehnsucht nach einer wunderbaren Erfüllung im Blute lag. Früher, als man noch jung war und das Herz sich, wenn Märsche und kriegerischer Gesang ertönten, nichts Schöneres denken konnte als den feurigen Rausch der Schlacht und die wilde, männliche Tat. Ja, dieser Zauber der blitzenden Waffen, des schäumenden Blutes und des kühnen Spieles um Leben und Tod schien allem weit überlegen, was das Dasein sonst zu bieten hatte. (…)

Ja, das war eine schöner Vormarsch durch einen Morgen aus Blattgrün und Sonnengold, in einer wunderlichen Mischung von Fröhlichkeit und feierlichem Ernst. Ach, das war es ja, woran wir gedacht hatten, dieses Große und Reine, dieses Gefühl, das ganz erfüllte, diese Leichtigkeit und diese Schwere zugleich. Immer hätte ich so marschieren mögen in dieser Morgenstunde, die alle Erwartung umschloß, unter dem jungen Grün der Buchen durch schmale Waldpfade über Hügel und Täler hinweg. Und was war das für ein Jubel, als uns an einem Kreuzweg die ersten Gefangenen begegneten, eine lange Kolonne bedrückter in horizontblaue Mäntel gekleideter Gestalten, und als uns ein bärtiger Landwehrmann zurief: „Jungens, jetzt feste ran!“
Freilich, als wir dann auf die große Waldstraße einschwenkten, auf der unaufhörlich geschoßgefüllte Protzen nach vorn rasselten, während der Lärm der Schlacht schon ganz dicht und tausendfältig vor uns dröhnte und stampfte, und als eine Tragbahre nach der anderen an uns vorübergeschleppt wurde, da wurde es schon bitter ernst. Da begannen die Gedanken sich ganz nach innen zu wenden, und jeder hatte wie in einem Fieber mit sich selbst zu tun. Und als die erste Granate dumpf neben uns in den Waldboden fuhr und ihrem Einschlag ein Geprassel von Zweigen und der schwerfällige Niederbruch der hochgeschleuderten Erdklumpen folgte, da rief in die beklommene Stelle, die nun einsetzte, ein alter Krieger hinein: „Jetzt ist euch das Hammelfell geplatzt“. Aber das Lachen war nicht mehr dasselbe wie kurz zuvor. Und als wird dann durch ein rollendes Gewehrfeuer hindurch eine ganz mit Leichen bedeckte Lichtung überschritten – da waren wir eigentlich schon ganz andere Menschen geworden. Die Sonne schien anders als vorher

Ernst Jünger, Feuer und Blut

HANNIBAL

Selbst an den allerverlorensten Schlachten,
selbst an Plänen, die wieder und wieder
scheiterten, scheitern mußten, berauschen sich
Knabentränen und Heldenlieder.

Robert Frost

ZUM STÜCK

Nachdem Lessing 1755 Miss Sara Sampson vollendet hatte, beschäftigte er sich mit verschiednen dramatischen Vorhaben, einige von ihnen behandelten antike Stoffe. Der einzige dieser Pläne, welcher auch zu Ende geführt wurde, ist der Einakter Philotas. Unter dem sicherlich nicht zu unterschätzenden Einfluss des Siebenjährigen Krieges (1756-1763) schrieb Lessing das Stück 1758 und veröffentlichte es Ostern 1759 anonym bei Voß in Berlin. 1772 nahm Lessing es in seinen Band „Trauerspiele“ auf. Die Uraufführung fand in Berlin am 24. Januar 1774 durch die Kochsche Theatertruppe statt.
Am 18. März 1759 schickte Lessing ein Exemplar des Philotas an J.W. L. Gleim und eine interessante Folge von Missdeutungen des Stückes nahm ihren Lauf. Gleim, der nicht wusste, dass das Stück von Lessing selber war, sah im Philotas fälschlicherweise kein Antikriegsstück. Im Gegenteil: Er fertigte begeistert eine Fassung des Dramas in Versen an, glorifizierte darin den heldenhaften Tod und stilisierte Philotas zum bewunderungswürdigen Patrioten. Lessing bedankte sich daraufhin höchst diplomatisch für diese Bearbeitung bei Gleim: „Empfangen Sie vor allen Dingen meinen Dank für ihren Philotas. Sie haben ihn zu dem ihrigen gemacht, und der ungenannte prosaische Verfasser kann sich wenig oder nichts davon zueigen.“
Auch der Literatenkollege J.J. Bodmer missverstand Lessings Stück, wenngleich er ganz im Gegensatz zu Gleim in Philotas lediglich einen gewissenlosen, lächerlichen und leichtsinnigen Helden sah und sich über dessen „ungereimten und ausschweifenden“ Selbstmord mokierte. Sein Verdruss über Lessings Werk ging sogar so weit, dass er seine Abscheu in der Fabel Der kindische Held verarbeitete und 1760 eine dramatische Parodie zum Philotas veröffentlichte: Polytimet. Ein Trauerspiel. Durch Lessings Philotas, oder ungerathenen Helden veranlasset. Machte Gleim aus Philotas einen strahlenden Helden, so wurde er bei Bodmer zu einer eindeutig negativen Figur. Wobei Bodmer gedanklich eigentlich näher an Lessing war, ohne allerdings dessen Ironie auch nur ansatzweise zu begreifen. So war Bodmer in dem Irrglauben verhaftet, es sei Lessing daran gelegen, Philotas „für groß und edelmütig zu geben“.
Bis ins 20. Jahrhundert erfuhr Philotas auch weiterhin eine höchst kontroverse Deutung – aus heutiger Sicht schwer nachvollziehbar, denkt man allein an Lessings Minna von Barnhelm und den dort verhandelten fehlgeleiteten Ehrbegriff Tellheims oder gar an Lessings briefliche Äußerung gegenüber Gleim, in der er den Patriotismus als eine „heroische Schwachheit“ bezeichnete.

DER KINDISCHE HELD

Ein blühender Knabe voller Gesundheit, wol gebildet, Sohn eines Königs, rief den Tod, daß er ihn aus diesen Gegenden des Lichtes und Lebens hinnehmen sollte; er versprach, daß er ihm mit offnen Augen ins Angesicht sehen, und seinen kalten Mund küssen wollte. Der Tod kam und sagte, daß ihm verboten wäre, ihn umzubringen, er wäre gewiedmet auf den königlichen Stuhl seines Vaters zu sizen, und ein Reich von Glücklichen zu machen. Der junge Mensch bat ihn, daß er ihm doch einen von seinen Pfeilen geben sollte, daß er damit spielen könnte.
Die Pfeile in meinem Köcher sind nicht zum Spielen gemacht, sagte der Tod; du bittest, was du nicht kennest. Doch gab er ihm einen .Der Prinz betrachtet ihn mit tiefsinniger Aufmerksamkeit; ein Pfeil des Todes, rief er, in meinen Händen! Er zitterte vor Freuden, er redete den Pfeil an, und sezte sich in eine Stellung, als ob er ihn gegen den Tod schwingen wollte. Aber plötzlich stieß er ihn in seine eigene Brust, und sagte höhnisch zu dem Tode: Wußtest du nicht, daß ich den Muth hätte , dein Amt an mir selber zu verrichten? Wenn die Menschen herzhaft wären, so hättest du wenig Arbeit. Ich sterbe vergnügt, nachdem ich meiner Nation einen Original-Charakter gegeben, der zu ihrer Denkungsart das beste Verhältniß hat.
Der Teufel versezte: Wenn deine That zu loben ist, so ist sie es darum, daß du dir selbst dein Recht gethan hast. Der ist nicht werth zu leben, der das Leben verschmähet.

Johann Jacob Bodmer, Lessingische unäsopische Fabeln

GEHEIME INSTRUKTIONEN

Sollte mich der Unstern treffen, daß ich vom Feinde gefangen würde, so verbiete ich, daß man auf meine Person die mindeste Rücksicht nehme, noch auch sich irgend welche Gedanken mache über das, was ich aus meiner Haft schreiben könnte. Sollte mir ein solches Unglück geschehen, so will ich mich opfern für den Staat; alsdann muß man meinem Bruder gehorchen und dieser, wie alle meine Minister und Generale werden mir mit ihrem Kopfe einstehen dafür, daß man den Krieg fortsetzt, indem man alle seine Vorteile verfolgt ganz so, als wenn ich nie auf der Welt gewesen wäre

Friedrich II. von Preußen
vor der Eröffnung des Feldzuges am 10. Januar 1757