Überraschung im TuT

Das „Theater unter Tage“ überrascht mit einer dort kaum gekannten Bilddichte und üppigem Personalaufwand: Die Inszenierung des surrealistischen Stückes „Ein Flanellnachthemd“ zeigte das Potenzial des „Actors Studio“

Bericht 4, Lokalseite

Ein Nachthemd gibt Rätsel auf

Surrealistisches Stück mit enormer Bilddichte und üppigem Personalaufwand von Sebastian Drolshagen

Kurz vor Saisonende überraschte das „Theater unter Tage“ mit einer dort bisher kaum gekannten Bilddichte sowie mit üppigem Personalaufwand: Die Inszenierung des surrealistischen Stückes „Ein Flanellnachthemd“ zeigte das enorme Potential des „Actors Studio“

Licht und Schatten, Hell und Dunkel, Schwarz und Weiß, akzentuiert durch feuriges Rot: Die Kontraste in Leonora Carringtons Einakter „Ein Flanellnachthemd“ scheinen von fast bestechender Deutlichkeit zu sein und doch bleibt in den Kellerräumen an der Königsallee an diesem Abend viel im Unklaren. Schon der Auftakt ist kurios, wirkt im Vergleich zum Folgenden aber geradezu gewöhnlich: Dwyn (mit langem Blondhaar: Tana Schanzara), Ladenbesitzerin im roten Strickgewand, sitzt in ihrem Geschäft und hält unaufhörlich die riesigen Stricknadeln in Bewegung, die auf diese Weise ihr eigenes Kleid ständig verlängern.
Im beigen Anzug von britischer Strenge tritt ein unbekannter Reisender hinzu und wünscht: „Ein Flanellnachthemd“.
Zu diesem Zeitpunkt ist eine Großteil der Bühne für das Publikum noch verborgen, die Scheinwerfer begleiten nur die einzelnen Personen, als wollten sie ein Porträt zeichnen und keinesfalls die gesamte Szene illuminieren. In den Lichtkegel fällt als nächstes eine Leiche (von bewundernswerter Unbewegtheit: Tobias Fritzsche), weiß gekleidet, das Hemd an der Brust blutdurchtränkt. Doch die „schwarze Gestalt“ – über und über mit Lehm beschmiert und mit einer dritten Hand gewappnet – rammt ihr noch einen Dolch in die Brust, so dass das Theaterblut in Strömen fließt.
Anschließend entflammt der Geist eine Tischplatte, später wabert Rauch über die Bühne: Nette, aber durchaus verzichtbare Effekthascherei. Nötig hat sie die Inszenierung von Marlin de Haan nämlich nicht. Denn stets binden neue Figuren den Blick des Zuschauers, während an anderer Stelle auf der Bühne die Handlung weitergeht und ohne Unterlass neue Bilder entstehen.
In der Rolle des Arawn, eines gelähmten Jungen mit Zügen eines Tyrannen oder bösen Halbgottes, fesselt Benedikt Frey gerade noch die gesamte Aufmerksamkeit, als Dwyn und der Reisende schon Brüderschaft trinken. Währenddessen malträtiert Arawn – in Manier eines Voodoo-Priesters – eine Schaufensterpuppe mit Dartpfeilen. Es wird klar, dass Dwyn seine Mutter und der Tote sein Vater ist; eindeutige Handlungszusammenhänge bleiben dennoch mystisch verborgen.
„Ein Flanellnachthemd“ ist somit ein Stück, das ungeteilte Aufmerksamkeit fordert und Spannung beziehungsweise Anspannung in gleichem Maße erzeugt. Diese entlud sich bei der Premiere in einem enthusiastischen Schlussapplaus. Ab Herbst ist Carringtons Drama wieder zu sehen.

Westdeutsche Allgemeine Zeitung, Bochum
09.07.2004

Tana Schanzara und Maja Beckmann

Zwei Hernerinnen im Flanellnachthemd

Ein Mann will ein Nachthemd kaufen. Nicht irgendeines und schon gar kein modisches, sondern ein Flanellnachthemd. Da muß die Ladenbesitzerin schon längere Zeit darüber nachdenken, ob sie ein solches Exemplar noch auf Lager hat. Ihre Hauptbeschäftigung scheint darin zu bestehen, an einem „ungeheuren“ Kleidungsstück, in dem sie selbst steckt, zu stricken.

Auch sonst geschehen merkwürdige Dinge auf der vielfach verschachtelten, einer überdimensionierten Puppenstube ähnelnden Bühne im intimen Bochumer „Theater unter Tage“. Eine Leiche wird hereingetragen, eine ganz in schwarz gekleidete Person mit drei Händen entflammt einen Tisch, eine dicke weiße Gans plustert sich rechterhand auf einem Möbelstück, ein schwarzer Schwan reckt seinen Hals und im Hintergrund tafelt eine barocke Festgesellschaft – in besagten Flanellnachthemden ..
Leonora Carrington (Jg. 1917), die surrealistische Malerin, Schriftstellerin („Unten“, „Das Hörrohr“) und Dramatikerin („Das Fest des Lamms“), zeitweise Weggefährtin von Max Ernst, hat mit dem 1945 in Mexiko entstandenen Einakter „Ein Flanellnachthemd“ ein auf wunderliche Weise skurriles Stück mit lauter schrägen (Traum-)Gestalten geschrieben.
Im Rahmen des ambitionierten Reihe „Actors Studio“ wurde es jetzt von Marlin de Haan, seit vier Jahren Regieassistentin am Schauspielhaus Bochum, im Stil des Berliners Andrej Woron im „TuT“ als Gesamtkunstwerk inszeniert – mit Tana Schanzara, Johannes Zirner, Maja Beckmann und weiteren neun Darstellern.
Die Bühne (Steffi Dellmann, Tobias Schunck), ein nicht minder skurriler Einheitsraum, deutet ein Haus mit fünf Zimmern an, darunter das Wäschegeschäft von Dwyn (Tana Schanzara mit ungewohnter Blond-Perücke in sagenhaft rotem Outfit). Ist sie die keltische Göttin der Liebe und ihr Gast Nud (Johannes Zirner) der Gott der Heilung und des Wassers? Dann wäre der behinderte Junge (Benedikt Frey), der Dart-Pfeile solchermaßen auf eine Schaufensterpuppe wirft, dass die Zuschauer der ersten Reihe um ihre Gesundheit fürchten müssen, der walisische Unterwelt-Gott Arawn und Maja Beckmann die Hindu-Götting der Erde und der Dunkelheit, Prisni.
Oder ist Dwyn einfach nur die Witwe des offenbar erst vor kurzem Ermordeten (Tobias Fritzsche), dann wäre sie die Mutter des wild aussehenden Jungen. Fragen über Fragen – und keine Antworten ganz im Sinn der Autorin.
Dafür nimmt die ungeheure Bilderflut dieser choreographierten Traum-Symphonie ebenso gefangen wie die grandiose Live-Musik des mit Cello, Geige, Oboe und Percussions ungewöhnlich besetzen Instrumental-Trios Anwar Alam, Jörg Brinkmann und Karsten Riedel, zumal die Sängerin Juliane Reincke ihrer „Weißen Gestalt“ berückende Töne entlockt (Liedtexte: Axel von Ernst).
Diese surrealistische „Oper“ steht wieder am 14. Oktober auf dem Spielplan des Schauspielhauses Bochum im „Theater unter Tage“, Karten unter: Tel. 0234/3333111.

Das wohltemperierte Flanellnachhemd

Actors Studio: Ballett im Setzkasten

Pyjamas sind Vorschrift, sagt Tana Schanzara und strickt weiter. Neben ihr liegt Tobias Fritzsche in einem Nachthemd und seinem Blute am Boden. Sie sieht ihn nicht.
Wie in einem Setzkasten hat Marlin de Haan ihre Darsteller für die Premiere von „Ein Flanellnachthemd“ im Theater unter Tage drapiert, das Bühnenlicht dient zur Begrenzung der Spielräume. Voneinander wissen die Personen in diesem allegorischen Kurzclip-Drama wenig, nur selten ergibt sich so etwas wie ein Dialog, kommt es zu Interaktion – hier sollen die Bilder die Geschichte erzählen.
Sprachlose Staffage
Steffi Dellmann und Tobias Schunck haben dafür eine gazeverhangene Galerie entworfen, die sozusagen den Rahmen für de Haans zahlreiche Szenengemälde bildet. Und die machen auf den ersten Blick durchaus Eindruck: Tana Schanzara im zinnoberroten Dress, eine staubig-barocke Festgesellschaft, ein verkrüppeltes Kind, ein hagerer Erdgeist – Victoria Behr darf bei ihren Kostümen aus dem Vollen schöpfen. Die Staffage auch ohne Hilfe des Textes zum Sprechen zu bringen kann auch sie nicht, und so sitzt man oft ebenfalls hilflos im Dunkeln. Häufig hilft in dem von de Haan ballettartig choreographierten Bilderreigen nicht einmal freies Assoziieren: Traumgestalten treten auf und ab, ein Tisch brennt, im Hintergrund räkelt sich ein schwarzgefiedertes Wesen …
nette optische Effekte, die aber nichts über sich verraten wollen. Falls Carrington ihrem Text in dem von der Literatur durchgängig als surreal beschriebenen Stück überhaupt eine Bedeutung zugemessen hat, so kann sie sich in dieser Inszenierung nicht entfalten.
Beredte Klänge
Dass dieses „Flanellnachthemd“ einen dennoch gefangen nimmt, liegt an der grandiosen, feinfühlig-eigenwilligen Musik, für die Anwar Alam, Jörg Brinkmann und Karsten Riedel zuständig sind. Eine Musik, die sich zwischen Improvisation und Symphonie tummelt, mitunter genialisch inspiriert, nie bloßer Klanghintergrund. Richtige Arien entstehen, wenn Juliane Reincke dazu im Tonfall eines Säuglings frei vokalisiert, dann wieder versiegt die Musik zu einem trockenen, kargen Plicken. In den besten Momentes des Trios wird so vollends unklar: Illustriert die Musik die Szene oder ist es gerade umgekehrt, ist das nun Sprechchor, Oper, Ballett, absurdes Theater?
Wieder draußen, auf dem Hans-Schalla-Platz, wirkt die Musik fort. Das Blindensignal an der Ampel plickt, ein Keilriemen quietscht wie vorhin noch der Bogen über den Saiten der Violine, das Geplapper der Passanten erinnert an Reinckes Kindsprache. Daran denkt man, und, dass die blond-perückte Schanzara in dem roten Fummel wieder mal sensationell ausgesehen hat, wie sie da saß und strickte. Plick, plick.
Peter von Dyk

Ruhr Nachrichten, Bochum
08.07.2004